Tafeln fordern: Armut abschaffen!

Die Preise steigen seit Jahren deutlich schneller als Sozialleistungen, Renten und Gehälter. Mittlerweile sind 14,2 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen; 1,6 bis 2 Millionen von ihnen kommen zu den 970 Tafeln im ganzen Land. Armut verfestigt sich zusehends und nimmt immer mehr Menschen die Perspektive auf ein Leben in Würde. Tafel Deutschland warnt eindringlich vor dieser Entwicklung und startet deshalb die Kampagne "Armut hat viele Gesichter".

Armut ist kein Zeichen für individuelle Schuld, sondern ein strukturelles Problem. Mit der Kampagne "Armut hat viele Gesichter" macht Tafel Deutschland auf die vielschichtigen Geschichten der Betroffenen aufmerksam, sensibilisiert für ihre Lage und fordert eine sozial gerechte Gesellschaft mit einem klaren Ziel: Armut abschaffen!

Dieses Ziel verfehlt die Politik seit Jahrzehnten. Maßnahmen wie das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung halten ihre Versprechen nicht und sorgen nicht dafür, dass Menschen Armut überwinden und gleichberechtigt an unserer Gesellschaft teilhaben können. Das erleben wir jeden Tag bei den Tafeln, zu denen aktuell so viele Menschen wie noch nie kommen. Darunter sind Seniorinnen und Senioren mit niedriger Rente, Langzeitarbeitslose, Menschen mit geringem Einkommen oder einer chronischen Krankheit, Alleinerziehende, Geflüchtete und viele mehr. Ein Teil von ihnen kam noch bis vor kurzem allein über die Runden, benötigt inmitten der vielen Krisen nun aber Unterstützung.

Portrait von Tafel-Kunde Marcel von Reiner Pfisterer

„Hat der Wechsel von Hartz IV zum Bürgergeld einen Unterschied gemacht? Nicht wirklich. Es fehlt vorne und hinten.“

Marcel, 46, bezieht Bürgergeld und holt für sich und seine Kinder unterstützend Lebensmittel bei der Tafel ab. Spartipps von Politikerinnen und Politikern, die selbst keine Armut erlebt haben, empfindet er als respektlos und versucht sie zu ignorieren.

Tafel Deutschland fordert von der Bundesregierung:

  • einen armutsfesten Mindestlohn, der auch vor Altersarmut schützt
  • armutsfeste Sozialleistungen (Laut Angaben des Paritätischen Gesamtverbandes müsste ein armutsfester Regelsatz aktuell bei 813 Euro liegen.)
  • eine armutsfeste Kindergrundsicherung, die allen einen chancengleichen Start ins Leben ermöglicht
  • armutsfeste Renten für einen würdevollen Lebensabend
  • keine prekären Jobs, keine sachgrundlose Befristung
  • Aufwertung sozialer, häufig schlecht bezahlter Jobs
  • Anerkennung von Kindererziehung, Sorge-Arbeit, Ehrenamt etc. bei der Rente – denn Lohnarbeit ist nicht das Einzige, das der Gesellschaft gut tut
  • sichere und gesunde Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen, die sich alle leisten können
  • bezahlbares Wohnen
  • kostenfreie, hochwertige Bildung und Betreuung für alle Kinder – von der Kita bis zur Ausbildung oder Universität
  • Kinderrechte ins Grundgesetz, u.a. Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung; Recht auf Schutz, Förderung und angemessenen Lebensstandard
Portrait von Tafel-Kundin Anja Mary von Reiner Pfisterer

„Wenn wir alle ein bisschen mehr Geld hätten, hätten wir auch keine Angst mehr.“

Anja Mary, 44, erhält bei der Tafel Lebensmittel für sich und ihre Eltern, die sie pflegt. Sie würde gerne arbeiten, aber kann nicht lesen und schreiben und findet deshalb keinen Job. Einen Alphabetisierungskurs müsste sie selbst bezahlen, kann ihn sich aber nicht leisten.

Tafeln helfen Menschen in Notsituationen vor allem mit geretteten Lebensmitteln. Für einen symbolischen Preis erhalten unsere Kundinnen und Kunden Gemüse, Obst, Brot und vieles mehr. Doch als private Initiativen finanzieren sich Tafeln vor allem aus Spenden und werden von ehrenamtlichem Engagement getragen – daher können und wollen wir keine staatlichen Aufgaben übernehmen. Die Versorgung jeder Bürgerin und jedes Bürgers muss der Staat ermöglichen.

Portrait von Tafel-Kunde Burkhard von Reiner Pfisterer

„Es ist nicht erfreulich, mit 42 Jahren in Rente zu gehen. Da fehlt eine Lebensaufgabe.“

Burkhard, 62, wurde aus gesundheitlichen Gründen Frührentner und kommt seit zwei Jahren zur Tafel. Am Leben teilzuhaben, so wie es für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen üblich ist, sei für ihn kaum möglich: „Man zieht sich ein bisschen zurück.“

Warum ist Armut ungerecht?

Wie viel oder wenig Geld ein Mensch zur Verfügung hat, wirkt sich auf das ganze Leben aus. Einerseits fehlt es armutsbetroffenen Menschen an materiellen Dingen: Sie müssen vielleicht am Essen sparen oder wohnen auf engstem Raum. Gehen Waschmaschine oder Winterjacke kaputt, müssen sie lange sparen – wenn ein Ersatz überhaupt drin ist. Auch Hobbys, Ausflüge oder gar Urlaub sind unerschwinglich.

Andererseits hat Armut viele emotionale und weniger greifbare Folgen: Viele Betroffene ziehen sich aus Scham zurück, leben in Isolation und verlieren viele zwischenmenschliche Kontakte. Sie leben in ständiger Angst, dass eine unerwartete Rechnung im Briefkasten landet, der Kühlschrank kaputt geht oder die Miete erhöht wird, sodass sich ihre Situation weiter verschlechtert.

Das alles hat dramatische Folgen für armutsbetroffene Menschen:

  • Sie sterben im Durchschnitt früher als wohlhabendere Menschen.
  • Sie haben ein doppelt so hohes Risiko, an Depressionen zu erkranken.
  • Sie haben ein höheres Risiko für Herzkrankheiten und Diabetes.
  • Sie haben geringere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss.

 

Unsere Gesellschaft darf sich Armut nicht länger leisten

Armut macht krank und vererbt sich häufig. In Deutschland dauert es bis zu sechs Generationen, ehe Nachfahren einer einkommensschwachen Familie Armut überwinden und ein durchschnittliches Einkommen erhalten. Für Betroffene ist es nur schwer möglich, der Armut zu entkommen. Obwohl Deutschland ein wohlhabendes Land ist, lässt es über 16 Prozent seiner Bürgerinnen und Bürger nicht an diesem Wohlstand teilhaben.

Portrait von Tafel-Kundin Natalia von Reiner Pfisterer

„Ich habe fünf kleine Kinder und muss viele Anträge beim Sozialamt stellen. Das ist nicht leicht.“

Natalia, 45, musste mit ihrer Familie vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Während sie auf Unterstützung wartete, verwies das Sozialamt sie an die Tafel – obwohl Tafeln kein staatliches Angebot sind.

Armut in Deutschland: Und jetzt?

Krankheit, Jobverlust, Trennung, fehlende Kinderbetreuung: Armut in Deutschland hat viele Gründe und Facetten. Trotzdem dominiert in Teilen der Bevölkerung weiterhin das Bild der faulen Arbeitslosen, die an ihrer Situation selbst schuld sind. Dabei ist Armut nicht angenehm oder entspannt. Sie setzt Betroffene unter Druck, löst Angst aus und isoliert. Die wenigsten Menschen fühlen sich wohl, sondern möchten ihre Lage verbessern, an der Gesellschaft teilhaben und ihrer Familie eine bessere Zukunft ermöglichen.

Die Vorurteile gegen armutsbetroffene Menschen verhindern Solidarität und tragen maßgeblich dazu bei, dass politisch in den letzten Jahren und Jahrzehnten kaum wirkungsvolle Maßnahmen gegen Armut umgesetzt wurden. Aber strukturelle Probleme lassen sich nicht individuell überwinden. Zu den Tafeln kommen die unterschiedlichsten Menschen: Viele können nicht arbeiten, weil sie krank sind, weil sie sich um Angehörige kümmern, weil sie zu alt oder zu jung sind. Oder sie arbeiten, können davon aber nicht leben.

Armut ist ein Teil unserer Gesellschaft. Ein unangenehmer Teil, der oft verdrängt und unsichtbar gemacht wird. Doch Menschen, die von Armut betroffen sind, verdienen Unterstützung und die Chance auf eine selbstbestimmte, gerechte Zukunft.

Portrait von Tafel-Kundin L. von Reiner Pfisterer

„Seit die Strompreise erhöht wurden, muss man ums Überleben kämpfen. Deswegen gehe ich zur Tafel.“

L., 65, hatte ihr ganzes Leben lang nie viel Geld. Nach jahrelanger Arbeit erhält sie nun krankheitsbedingt Bürgergeld, das ihrer Erfahrung nach zu gering ist. In den Urlaub ist sie noch nie gefahren.

Sechs Menschen, die zur Tafel gehen, zeigen in unserer Kampagne Gesicht. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, Wünschen und Ängsten. Sie senken nicht den Blick, sie machen sich nicht klein, denn dafür gibt es keinen Grund. Sie sind da.

Die Fotos zeigen die Menschen auf Augenhöhe und selbstbestimmt, der Kamera zugewandt und fernab der Klischees, mit denen Armut häufig dargestellt wird. Menschen sind aus vielen verschiedenen Gründen von Armut betroffen und haben unabhängig von ihrem Kontostand individuelle Persönlichkeiten.

Wir laden Sie in den nächsten Wochen dazu ein, den Geschichten der Tafel-Kundinnen und -Kunden zuzuhören und Ihre Vorurteile zu hinterfragen!

Portrait von Tafel-Kunde Burkhard von Reiner Pfisterer

„Wir geben immer gerne ab. Ich kann mich nicht an den Tisch setzen, wenn Menschen draußen stehen.“

Christina, 68, erhält eine kleine Rente. Mit ihrer Familie unterstützt sie aus eigener Initiative heraus seit vielen Jahren Geflüchtete u. a. bei Behördengängen. Vom Staat wünscht sie sich mehr Unterstützung für hilfesuchende Menschen, aber auch für Menschen, die anderen helfen.

Dank

Ein großes Dankeschön möchte Tafel Deutschland den sechs Tafel-Kund:innen Anja Mary, Burkhard, Christina, L., Marcel und Natalia aussprechen, die sich bereiterklärt haben, Gesicht zu zeigen und an der Kampagne teilzunehmen. Danke an die Tafeln in Lübeck, Torgau und Duisburg, die das ermöglicht haben.

Tafel Deutschland bedankt sich zudem herzlich bei dem Fotograf Reiner Pfisterer, der die Portraits der Tafel-Kundinnen und -Kunden für die Kampagne kostenlos aufgenommen hat. Wir danken ebenfalls der Wall GmbH, die der Tafel Deutschland kostenlose Außenwerbeflächen zur Verfügung stellt, auf denen die Kampagnenmotive zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 ausgespielt werden.

Motiv der Kampagne "Armut hat viele Gesichter" auf einer digitalen Werbefläche