Wirtschaftskrise stellt die Tafeln vor große Herausforderungen

10.06.2009

Bundesverband fordert Armutsbeauftragten und stellt Strategie zur Bewältigung eines weiteren Anstiegs der Tafel-Kunden vor


Im Vorfeld des 15. Bundestafeltreffens, das vom 11.-13. Juni in Göttingen stattfindet, hat der geschäftsführende Vorstand des Bundes-verbandes Deutsche Tafel e.V. auf seiner heutigen Jahrespressekonferenz Bilanz über die Entwicklungen des vergangenen Jahres gezogen und angesichts der zu erwartenden überproportionalen Zunahme bedürftiger Menschen seine Forderungen an die Politik erneuert, Armut konsequent zu bekämpfen.


Gerd Häuser, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. erläuterte, dass die Wirtschaftskrise bisher keine wesentlichen Auswirkungen auf die Tafeln habe. Der Lebensmittelhandel als Hauptspender der Tafeln verzeichne anders als andere Branchen bisher kaum Nachfragerückgange, so dass nach wie vor große Mengen an einwandfreien Lebensmitteln gespendet würden. Auch die Bereitschaft der Bürger und Unternehmen, sich mit Zeit-, Geld- und Sachspenden für die Tafel-Idee zu engagieren, sei weiterhin gut. Aus diesem Grund konnte der Bundesverband seit Sommer 2008 fast einhundert Anträge von Bürgerinitiativen und Trägerorganisationen auf Gründung einer örtlichen Tafel bewilligen. Aktuell gibt es damit bundesweit 848 gemeinnützige Tafeln.


Allerdings steige die Zahl der Menschen, die die Unterstützung der Tafeln suchen, seit zwei Jahren schneller als die Menge der bundesweit gespendeten Lebensmittel zugenommen hat. „Die Tafeln konnten zwar mehr Menschen mit insgesamt mehr Lebensmitteln helfen, aber rein rechnerisch ist die Lebensmittelmenge pro Tafel-Kunde gesunken. Ein absehbarer weiterer Anstieg der Tafel-Kunden infolge der Wirtschaftskrise wird die Tafeln demnach vor große Herausforderungen stellen“, sagte Gerd Häuser mit Verweis auf die Prognosen der Wirtschaftsinstitute. Demnach soll die Zahl der Arbeitslosen auf bis zu 5 Millionen ansteigen.


Gerd Häuser verwies darauf, dass sich die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zeitverzögert auch bei den Tafeln bemerkbar machen würden. Wer heute seine Arbeit verliere, sei nur befristet mit Alg I abgesichert. Bliebe die Arbeitssuche erfolglos, seien nach nur einem Jahr die meisten Betroffenen auf Alg II angewiesen und gälten damit als bedürftig.


„Wenn die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der politisch Verantwortlichen nicht ausreichen, um einen drastischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen abzuwenden, dann werden spätestens 2010 sehr viel mehr Menschen auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein als die, die es jetzt schon sind. Das bedeutet für die Tafeln, dass sie für wesentlich mehr Menschen als bisher da sein müssen“, sagte Gerd Häuser. Aktuell unterstützten die Tafeln rund eine Million Menschen mit Lebensmittelspenden. „Diese Zahl wird dann bei weitem übertroffen werden“, befürchtet der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.


Für den Bundesverband und die einzelnen Tafeln bedeutet dies, dass sie ihre Anstrengungen verstärken müssten, weitere Unterstützer für die spendenbasierte Arbeit der gemeinnützigen Tafeln zu gewinnen. Die Strategie des Bundesverbandes sieht dabei drei Aktionsfelder vor.

 

1) Die Zusammenarbeit mit den Herstellern und Händlern von Lebensmitteln soll gepflegt und weiter intensiviert werden. Ein großes Potenzial liege insbesondere bei den Herstellern. Ein großer Teil verzehrsfähiger Lebensmittel gelange wegen kleinerer Mängel gar nicht erst in den Handel. Das gilt auch für Überproduktionen. Diese Waren könnten dann denen zugute kommen, die sie dringend benötigen und die absehbaren Lücken im Spendenaufkommen füllen.


2) Die überregionalen Logistikverbünde der Tafeln und sollen auf- und ausgebaut werden. Die Lebensmittelgroßspenden, die in einigen Regionen anfallen, gilt es noch besser ins Bundesgebiet hinein zu verteilen. Der Bundesverband möchte Lagerkapazitäten für die logistische Infrastruktur der Tafeln erwerben, u.a. um größere Mengen länger haltbarer Spenden in einer Art Pufferlager vorhalten und so Schwankungen im Spendenaufkommen besser ausgleichen zu können. Dazu erhofft sich der Verband staatliche Fördergelder. Die Mittel dafür könnten aus einem noch zu schaffenden Kompensationsfonds für deutsche Hilfsorganisationen kommen. Denn anders als andere europäische Länder können Hilfsorganisationen hierzulande bei der EU keine Mittel aus dem rund 500 Millionen Euro schweren Lebensmittelhilfs-programm für Bedürftige beantragen.


„Die Bundesrepublik Deutschland als einer der größten EU-Nettoeinzahler nimmt an dem Programm gar nicht teil. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die staatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Grundsicherungsrente und Sozialgeld zur Sicherung der Existenz reichen. Fast 850 Tafeln und mehr als eine Million Tafel-Kunden beweisen das Gegenteil“, so Gerd Häuser.


3) Es gilt, weitere Unternehmen außerhalb der Lebensmittelbranche als Unterstützer zu gewinnen. Viele von ihnen haben auch in der Krisenzeit eine wirtschaftlich starke Position.


„Die Wirtschaftskrise ist eine Bewährungsprobe für die Bürgergesellschaft“, sagte Gerd Häuser. Die Krise habe gezeigt, Arbeitslosigkeit und in der Folge Armut könne jeden treffen. Bürgerschaftliches und unternehmerisches Engagement zur Linderung von Armut sei mehr denn je gefordert.


Als Initiativen freiwillig engagierter Bürgerinnen und Bürger könnten Tafeln die sozialen Probleme nicht lösen, aber sie könnten die Folgen von Armut lindern. „Die Tafeln werden gemeinsam mit den Wohlfahrtsorganisationen und anderen Akteuren im sozialen Bereich alles in ihren Kräften stehende dafür tun, die Interessen von Menschen in schwierigen Lebenslagen zu vertreten und deren Lebenssituationen so weit wie möglich zu verbessern.“


Der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. und die Tafeln selbst seien parteipolitisch neutral. Das bedeute nicht, dass sie unpolitisch seien. Der Vorstandsvorsitzende appellierte an die Politik: „Der wichtigste Akteur im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge ist und bleibt der Staat!“


Der Verband erneuerte daher seine Forderungen an die Politik:

 

  • Der Staat muss mehr dafür tun, damit die Menschen in Arbeit kommen und dafür, dass sie dadurch ein Einkommen erzielen, von dem sie auch leben können.
  • Staatlichen Leistungen für arme oder von Armut bedrohte Menschen müssen angepasst werden, insbesondere der Regelsatz für Familien mit Kindern muss bedarfsgerecht ermittelt werden
  • Um Kinderarmut in den Familien zu bekämpfen muss zusätzlich der Ausbau der Kinderbetreuungsangebote vorangetrieben werden, damit die Eltern bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und nicht zuletzt sollte jedes Kind ein kostenloses Mittagessen in der Schule bekommen.


Mit Blick auf die Werbung der Bundesregierung für mehr Bürgerengagement forderte Gerd Häuser: „Wer in so weit reichendem Umfang wie die Tafeln soziale Arbeit für die Gesell-schaft leistet, verdient dafür die Unterstützung und Anerkennung des Staates. Der Bundes-verband Deutsche Tafel e.V. mit der Berliner Geschäftsstelle leistet seine vielseitige Arbeit für die steigende Zahl von Tafeln nach wie vor gänzlich ohne öffentliche Mittel. Das muss sich ändern.“


Angesichts der Schwierigkeiten, Armut sinnvoll und nachhaltig zu bekämpfen, schlägt der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. vor, eine/n Armutsbeauftragte/r bei der Bundes-regierung einzusetzen:


„Der Kampf gegen Armut in unserem Land muss wesentlich konsequenter geführt werden.
Dazu braucht es einen mit weit reichenden Befugnissen ausgestatteten Beauftragten für Armutsbekämpfung. Dieser Beauftragte könnte die Aktivitäten der verschiedenen Ministerien und staatliche Institutionen im Bereich Armutsprävention und Armutsbekämpfung koordinieren und so eine wichtige bisher fehlende Schnittstellenfunktion zwischen den Ministerin aber auch zwischen der Regierung und allen auf dem Gebiet tätigen Wohlfahrtsverbänden und anderen gemeinnützigen Organisationen sein. Seine Aufgaben hierbei wäre es auch darüber zu wachen, dass diese Verbände und Organisationen nicht von staatlicher Seite dazu instrumentalisiert werden, originär staatliche Aufgaben der Daseinsfürsorge zu übernehmen“, sagte Gerd Häuser.


Bundestafeltreffen 2009


Vom 11. bis 13. Juni versammeln sich die Vertreterinnen und Vertreter der mehr als 840 deutschen Tafeln in Göttingen zu ihrem 15. Bundestreffen in Göttingen. Mehr als eintausend überwiegend ehrenamtlich engagierte Tafel-Aktive werden hierzu aus dem gesamten Bundesgebiet erwartet. Zum Bundestafeltreffen als Gäste eingeladen sind auch die überregional aktiven Unterstützer der Tafeln aus den Unternehmen sowie aus Gewerk-schaften und Wohlfahrtsverbänden.


Ihre Teilnahme zugesagt haben u.a. die Schirmherrin der Tafeln in Deutschland, Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen, der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und Heidi Merk, Präsidentin des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V.
Die Teilnehmer erwartet ein dreitägiges Programm aus Fach- und Kulturveranstaltungen. Dreh- und Angelpunkt des Austausches wird u.a. die Frage sein, welchen Beitrag bürgerschaftliches und unternehmerisches Engagement bei den Tafeln und für die Tafeln realistischerweise in der Praxis leisten kann, um Armut zu lindern.

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